Marrakesch, Djemaa el Fna
   Prosa
   Rimbaud Taschenbuch Band 43

   ISBN 3-89086-611-5 - 15,- €

 

 

 

 

 

 

"Dieses kleine, sich leicht in jede Reisetasche schmiegende Buch sei jedem arrakesch-Reisenden als große Schule der Wahrnehmung ans Herz gelegt."
Stefan Weidner, Frankfurter Allgemeine Zeitung

"Christoph Leisten hat ein Gegengift für die scheinbaren Versuchungen der Exotik geschrieben, wirksam nicht nur am Top-Tourismusziel Marrakesch, sondern auf unseren schlampigen, unsinnigen Reisen überhaupt. In 88 Prosaminiaturen nähert sich der Lyriker dem weltberühmten Platz Djemaa el Fna, wo das alte Nordafrika auf das moderne Dorf der Welt trifft. In einer paradoxen Bewegung der Annäherung, die das andere zugleich erfahren und doch wahren möchte, wird der Platz zur Metapher einer unendlichen Passage vom Eigenen zum Fremden."
Angelika Overath, Neue Zürcher Zeitung

"Eine Fülle von subtilen Beobachtungen und ausdrucksstarken Anmerkungen erwartet den Leser (...) Die Wahrnehmungen Leistens auf dem Platz der Gaukler sind von einer eigentümlichen Schönheit, die sowohl von seiner Sprachmacht als auch von seiner Liebe zum Detail zeugt."
Regine Mönkemeier, "Der Dreischneuß"

"Sätze, die einer Liebeserklärung gleichen. Christoph Leisten hat die Metapher des Menschlichen für sich in Marrakesch entdeckt. Dies in Worte, in Prosa zu fassen, ist dem Autor in einer packenden und mitfühlenden Weise gelungen."
Siegfried Malinowski, Aachener Nachrichten

Auszug:

40

Blick von der Terrasse des Café de France. Die Unbeschreiblichkeit des Platzes mag daher rühren, dass er jeder geometrischen Grundform entbehrt. Vergleiche die Stadtpläne in den Reiseführern, die du mitgeschleppt hast: Nie wirst du den Grundriss auch nur annähernd ähnlich eingezeichnet finden. Komm mehr- oder vielmals hierher, und immer wieder wirst du einen anderen Platz vorfinden: Nach Westen hin hat sich die Häuserfront gespreizt, die alte Busgarage ist näher gerückt, zwischen Post und Bank Al-Maghrib klafft nun eine riesige Schlucht, und die Koutoubia ist weit entfernt wie nie zuvor. Du gehst der asymmetrischen Struktur des Platzes auf den Leim, die dich glauben macht, der Hohe Atlas läge ein paar Autominuten hinter dem Eingang zu den Souks, während der Club Méditerranée auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes ein halbes Jahrtausend entfernt sein müsse. Und die vertrauten, fremden, immergleichen, neuen Menschenbilder dieses Platzes lehren dich die Wahrheit dieses Trugs. Menschenmengen. Sie kommen aus dieser Stadt oder aus dem Hohen Atlas, nicht vom Club Méditerranée, und sie haben mitunter eine weite und beschwerliche Reise hinter sich. Aber diese Reise wird morgen oder übermorgen für sie der Bruchteil einer Sekunde sein im Vergleich zu dem, was ihrer Erinnerung hier im Verlauf von Minuten auf viele Jahre hin geschenkt wird: Geschichten. Sie hören
Geschichten, als gäbe es das wirklich noch: Geschichten von Lüge und Verrat, von Liebe und Barmherzigkeit. Anfänglich sind es oft nur wenige, die in der Halqa lauschen, dann stoßen andere hinzu, die sich den Beginn nun selbst zu denken haben, und die doch den Fortlauf der Geschichte und damit selbst den Erzähler verändern, denn die erweiterte Zuhörerschaft verlangt nach größeren und lauteren Worten und nach einem Mehr an Gestikulation. Sie alle bringen ihre Geschichte mit und lassen sie sich neu erzählen. Es gibt traurige und komische Geschichten, lang ausholende und kurze und Geschichten ohne Zeit, Geschichten für Frauen, für Männer, für Kinder, aber niemand kontrolliert die Zuhörerschaft. Jeder auf dem Platz trägt das Seine dazu bei, dass die Geschichten erzählt werden können, und nur, wer gar nichts anderes hat, der zahlt in barer Münze. Auch gibt es die Geschichten, die gar nicht laut erzählt werden müssen, denn sie werden aufbewahrt in kleinen Schatullen oder in Fläschchen oder sie liegen sorgsam ausgebreitet auf einem fleckigen Teppich und helfen gegen allerlei Unbill, den bösen Blick, die Gicht, den untreuen Gemahl, die Liebe, das Erschlaffen oder den Tod. Keines Wortes bedürfen diese Geschichten, weil jeder um ihr Geheimnis weiß, oder wenn nicht, dann wenigstens um das ihres Anbieters. Und neben all diesen Geschichten gibt es immer noch die Schreiber, die im Auftrag eines Unkundigen ein Papier ausfüllen, einen Brief aufsetzen, ein Testament verfassen, und wer könnte sagen, was an dem, was ihnen diktiert wird, und an dem, was sie niederschreiben, die Wahrheit ist und was erfunden, oder was am Ende eine höhere, weil erfundene Wahrheit genannt werden könnte. Die geheime, in jedem Moment sich neu formierende Ordnung auf dem Platz: In Wahrheit sind es die Menschen, die seine Architektur bestimmen, nicht die Mauern. Während die Schreiber von einzelnen Menschen aufgesucht werden, bilden sich um die Geschichtenerzähler Kreise, Halqas, Inseln im Meer. Schwankende Inseln, die wachsen und sich verdichten, die an den Rändern zerfasern und bröckeln, die sich vereinigen und die sich spalten. Veränderte
Physiognomie der Erde in Jahrtausenden. Alles fließt, bewegt sich oder hält still, wie nach einer inneren Bestimmtheit. Die Sorge um das Abendbrot. Hoffnung auf ein kleines Glück, am Spieltisch oder mit der auserwählten Frau. Die Freude über den gestrigen Tag, den Schluck Wasser oder die zärtliche Vormittagssonne. Angst vor morgen. Lust auf eine Berührung, auf den gegrillten Fisch, Lust auf einen
Abschnitt aus einem Buch aus der Universitätsbibliothek. Die Trauer über eine zerbrochene Freundschaft, der Ärger über die misslungene Tajine. Das Glück eines Lottogewinns, eines erhörten Gebetes oder das der Geburt eines Kindes. Der Zwiespalt, eine käufliche Frau zu nehmen oder zum Kartenspiel zu gehen oder eine blütenweiße, brokatverzierte Gandorra zu kaufen. Die Erinnerung an ein Telefonat, an den seligen Vater oder an die Fußballübertragung gestern im Café. Der Traum, to be in America oder Lehrer zu sein oder wenigstens Kellner auf der Terrasse dieses großen weitläufigen Cafés mit dem französischen Namen. Das Glück oder das Unglück, jemanden zu treffen (oder nicht zu treffen) auf diesem Platz. Der Plan, eine entfernte Verwandte zu besuchen und ihr einen kleinen Kuchen mitzunehmen. Die Suche nach einem weggeworfenen Stück Brot oder nach den Stöpseln leerer Coca-Cola-Flaschen. Nachdenken über den richtigen Sitz der Krawatte oder ob das Geld bleibt für ein Hammam am Abend. Die Sehnsucht nach Ablenkung, nach Aufklärung, nach dem Geliebten und seinem Wohlgeruch unter den Achseln. Der Verlust eines Einkaufszettels, einer Telefonnummer und der eines Geldscheins. Der Duft der Minze dieser Stadt. Der Rhythmus der Gnaoua-Trommeln, die eine Melodie ins Ohr diktieren. Der Blick auf die Uhr. Hände, die einander streifen und berühren, die einander zärtlich fassen oder sich meiden. Kleidungsstücke, die aneinander rühren oder die sich verfangen. Jemand legt die Hand auf eines anderen Schulter: unerwartete Begegnung. Gaslaternen werden gebracht, unlängst ist Dämmerung eingekehrt. Schon färbt sich die Sonne rot, und wieder ändert die Djemaa el Fna ihr Gesicht.

© Rimbaud Verlag