Auszug aus: Osiris, Heft 12, 2003
Vom Sieg der Musen
Zu Hans Weßlowskis Gedicht "Zuende bringen"
Zuende bringen wird man hier nichts.
Geformt wird die Angst.
Die zweibeinigen Tiere schweigen.
Der kleine verrückte Bauchredner
hat die Lippen zusammengepresst,
die Hand zur Decke gestreckt,
die Sirene verstummt.
So wenig wirklich gewiss ist von der Genese des Poetischen, so sicher kann doch gesagt
werden, dass es immer auch einen Ursprung hat in der Gefährdung, im Leid, im
Schmerz und im Ungewissen selbst. Die großen Werke von Sappho bis Hölderlin, von
der Droste bis zu Christine Lavant, Celan und Benn legen ein beredtes Zeugnis davon
ab, ebenso wie die gelingenden Arbeiten der Gegenwart. Aber so sehr sich die gültigen
Werke damals wie heute am individuellen Schmerz entzünden mögen, so sehr haftet
ihnen immer etwas Tieferes an als die bloß verdichtete Artikulation persönlichen Leids,
nämlich das Exemplarische und, darüber hinaus, ein Moment der Versöhnung, ein
Vorschein der Erlösung und des Hinaustretens aus dem Zustand des Leids. Wie gelingt
der Poesie dieses Moment der Versöhnung? - Es gelingt ihr - vielleicht -, weil sie den
Schmerz zulässt und weil sie den Menschen als Ganzheit wahrnimmt, weitab von jener
zweckrationalen Beschränktheit, die exakte Wissenschaft fast ebenso kennzeichnet wie
schale Betriebsamkeit. Weil die Poesie in ihrer Intuition das Menschliche als
Individuation wirken lässt, ist sie Ausdruck einer umfassenden Humanität, die allenfalls
in der Antike ihren Vorschein hatte.
"Aus weißen Hallen" lautet der Titel des jüngsten - dritten - Gedichtbandes von Hans
Weßlowski: ein trefflicher Titel, in dessen mehrdeutiger Ortsbestimmung Geschichte
ausgelotet wird; eine Geschichte, die in leidvoller Gegenwart beginnen mag und die doch
tief hinabreicht in die Welt versöhnender Antike. Jene "weißen Hallen", aus denen diese
Dichtung entsteht, aus denen der Dichter jedoch auch hinaustritt, verbildlichen zunächst
wohl die moderne, anonyme, kühl-verwaltete, durch und durch zweckrationale und
damit krankmachende Welt, aber sie verweisen ebenso auf jene nach allen Seiten hin
offene antike Gebäudeform, die in unzähligen klassischen Dichtungen gewürdigt wird.
Hans Weßlowskis Gedichte oszillieren zwischen diesen historisch weit
auseinanderliegenden, geradezu konträren Implikationen des Titels, und in dieser
Oszillation finden sie ihr Moment der Versöhnung.
Die durchgängige Vielschichtigkeit dieser poetischen Gebilde mag an einem einzelnen
Beispiel demonstriert werden können, an dem Gedicht "Zuende bringen", das als
Schlussgedicht der vorliegenden Sammlung eine exponierte Stellung einnimmt.
Der erste Vers hebt an im Gewand des Parlando, hinter dessen alltäglicher Aussage sich
jedoch ganz anderes verbirgt. Der Befund "Zuende bringen wird man hier nichts" (V.1)
ist insofern ein Skandalon, als er die Züge einer Conclusio trägt, die eher am Schluss
denn am Anfang eines Gedichtes zu erwarten wäre. Hier aber scheint es, als werde
schon zu Beginn ein
Schlussstrich gezogen: Die Adverbien "zuende" und "nichts" bilden Auftakt und Kadenz
einer Aussage, deren Subjekt im Indefinitpronomen "man" seltsam unbestimmt,
andererseits durch die dezidiert unkonturierte adverbiale Bestimmung "hier" entschieden
lokalisiert wird. - Ist von dort aus überhaupt weiterzudichten?
Das Gedicht tut es, und zwar, indem es zunächst zwei weitere Aussagen folgen lässt, die
jeweils einen Vers einnehmen. Dieses Prinzip der geschichteten Sätze, in der
Fachsprache gelegentlich auch "Zeilenstil" genannt, scheint die mit der ersten Aussage
implizierte Depression zumindest formal aufzubrechen. Wenn der Befund stimmt, dass
nichts zuende zu bringen ist, dann sind, so scheint es, wenigstens noch zwei weitere
Aussagen haltbar; haltbar, im wahrsten Sinne des Wortes, im Vers. Mindestens zwei
Bedeutungen impliziert die nachfolgende Aussage "Geformt wird die Angst" (V.2): Es ist
die Angst, die im Prozess des Formens, des Geformtwerdens entsteht, und es ist die
Angst, der eine Form gegeben wird. Angedeutet wird hier die ambiguine und
wechselseitige Beziehung zwischen Leiden und Formung; im Motiv des Geformtwerdens
klingt zugleich ein Moment des Poetischen an, das, wie leicht zu zeigen ist, im weiteren
Gedicht unterschwellig konsequent mitverfolgt wird.
Schon der nachfolgende Vers thematisiert implizit zum ersten Mal etwas, das als
Entgegensetzung zum Poetischen verstanden werden kann, nämlich das Schweigen (vgl.
V.3). Wenn dieses Schweigen "zweibeinigen Tieren" (V.3) zugesprochen wird, dann liegt
es nahe, diesen Begriff als Periphrase zu verstehen, als Umschreibung des Menschen,
im Rekurs auf die alte antike Definition (der doch die präzisierende Definition des zoon
logon echon folgte). Zu Beginn die Verleugnung der Möglichkeit, etwas zustande zu
bringen, in der Mitte die Formung der Angst, am Schluss das Schweigen der
zweibeinigen Tiere, - damit endet der erste Teil des Gedichtes, das bis hierhin -
zumindest oberflächlich - apodiktisch-pessimistische Züge trägt.
Die noch folgenden vier Zeilen - also der größere Teil des Gedichtes - sind einem
einzigen Satzgefüge vorbehalten, das den geschichteten Einzelaussagen
entgegengesetzt wird. Bemerkenswert - wie so vieles - ist der vierte, der zentrale Vers
des Gedichtes, der als einziger keine Satzaussage umspannt, sondern einem - dem -
zentralen Subjekt vorbehalten bleibt. Es ist "(d)er kleine verrückte Bauchredner" (V.4).
Mit den Epitheta "klein" und "verrückt" wird eine Antithetik zu den "zweibeinigen Tieren"
entworfen, die, als Zweibeinige, hochaufgeschossen und damit wie übermächtig
erscheinen müssen, animale rationale, auch wenn sie der Sprache nicht (mehr?) fähig
sind. - Aber warum ein "Bauchredner"? Konventionell wäre das Metier des Bauchredens
der Gauklerei zuzurechnen; immerhin ist aber der Bauchredner kein Schweigender,
sondern ein - sogar professionell - Sprechender, und bei genauerer Betrachtung ergibt
sich auch hier ein Bezug zur Poesie, insofern Bauchredner wie (antiker) Dichter in einer
Stellvertretung reden, sich zum Sprachrohr eines Anderen machen, selbst wenn dieses
Andere nicht (mehr?) genannt werden kann oder nur noch als Puppe erscheint. Dieser
letztgenannte Akzent ist aber nur eine kunstvoll-dezente Anspielung auf die moderne
Entmystifizierung der Poetischen, denn im Bild des Dichters als einem Bauchredner lebt
auch die Vorstellung von der intuitiven Kraft seiner stellvertretenden Rede.
Aber ein Redner, der "die Lippen zusammengepresst" (V. 5) hat? - Genau. Präziser lässt
sich die paradoxale Sprechsituation von Bauchredner und Dichter (zumindest dem hier
gemeinten Dichter) kaum fassen. Er muss sein Sprechen geradezu kaschieren, muss
gegen die Macht des Zweckrationalen den Schein des Schweigens erwecken, in einem
anstrengenden, geradezu leidvoll-gewaltsamen Prozess, um sich der vorausgesagten
Unmöglichkeit einer Vollendung, dem Geformtwerden der Angst, dem Schweigen der
Tiere zu widersetzen und um das Sprachrohr sein zu können, das seine Existenz
ausmacht. Es ist ein geradezu antikes Dichtungsverständnis, das hier im vermeintlich
lapidaren Bild ausgesprochen, zumindest aber mit angesprochen wird. Und dies setzt
sich fort im folgenden Vers, insofern es nicht nur eine Sehnsucht nach Schutz und
Wärme bedeutet, wenn der Bauchredner "die Hand zur Decke gestreckt" (V.6) hat,
sondern auch - in einer anderen Bedeutung des Homonyms "Decke", eine Art
prometheische Selbsterkühnung impliziert. Was dabei mitschwingt, ist die Konnotation
der Textur, die dem Motiv der Decke inhärent ist. Die Hand (nicht nur, aber auch als
Metonymie der Schrift) streckt sich zum Gewebe der Decke, zum deckenden Gewebe;
wohlgemerkt nicht nach der Decke; wenigstens andeutungsweise wird hier auch darauf
verwiesen, wie Hand und Textur metamorphotisch ineinander verschmelzen.
"Die Sirene verstummt" (V.7), heißt als am Schluss des Gedichtes. Ist das ein neuer
Befund, der auf ein beiläufiges Geschehen verweist? Oder ist es der "Bauchredner" des
zentralen Verses, der die Sirene zum Verstummen gebracht hat? - Es ist - natürlich -
beides: Letztlich ist kaum auszumachen, ob das Verstummen der mahnend-betörenden
Klänge nun beiläufig geschieht oder ob es der dichterischen Aktivität zu danken ist.
Immerhin: Aus dem Sangeswettstreit mit den Sirenen gingen die Musen siegreich
hervor, wie man weiß. Vor diesem Hintergrund liest sich der erste, zunächst so
pessimistisch klingende Vers noch einmal anders: Nein, hier wird man nichts zuende
bringen müssen, weil es die Musen selbst sind, die für die poetische Vollendung sorgen,
bis hin zum Verstummen der Sirenen. Hans Weßlowskis Gedicht ist auch für diese
dichterische Wahrheit ein schöner Beleg. Was diese Verse darüber hinaus so gelungen
erscheinen lässt, ist die Tatsache, dass hier in der Artikulation des Leidens selbst ein
gültiges Moment der Versöhnung, ein Vorschein von Erlösung gewonnen wird. Der
eigentümliche Zauber, den schon der erste Vers auslöst, erklärt sich dadurch, dass die
kühle Erwägung, hier sei nichts zuende zu bringen, in der poetischen Formung schließlich
als Paradox entlarvt wird. Dem Gestus des Zuendebringens verhaftet bleibt nur jemand,
der sich hoffnungslos der kühl-rationalistischen Welt ausgeliefert, dem zwecksetzenden
Verformen und Verschweigen verschrieben hat. Nicht so der Dichter, der als ganzer
Mensch redet, aus dem Zentrum des Menschlichen, aus dem Bauch heraus: Dort, im
seinem tiefsten Inneren, ob nun gespeist durch die Musen oder durch wen auch immer,
findet er die Kraft zu jener Intuition, die nicht nur die rationale Welt der schalen Zwecke,
sondern auch das Leid und jede Kunde davon in den Bann schlägt. Eine schöne Aussicht
für die Poesie.